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Deutsche Bahn

Stuttgart 25, 26, 27 ...

Deutsche Bahn: Stuttgart 25, 26, 27 ...
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Diesmal wollte die Deutsche Bahn den vielfach verschobenen Eröffnungstermin für Stuttgart 21 um fast jeden Preis einhalten. Jetzt ist allerdings offiziell, dass der angeblich bestgeplante Tiefbahnhof aller Zeiten zum Fahrplanwechsel 2025 allenfalls teilweise ans Netz gehen kann. Oh Wunder.

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Keines der von Projektgegner:innen seit Jahren skizzierten Szenarien ist so entlarvend wie die Wirklichkeit. Und keine der maulheldenhaften Versprechungen der Befürworter:innen ist erfüllt worden. Stattdessen: immer höhere Kosten, immer längere Bauzeiten, immer mehr Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Projekts, Dauerbelastung im ohnehin überbelasteten Talkessel. "Man muss schon ständig den Kopf in den Gully stecken, um sich nachhaltig von den Bauarbeiten in der Ruhe stören zu lassen", trompetete der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn 2008. Auch Wolfgang Schuster (CDU), seinerzeit Stuttgarter Oberbürgermeister, ließ sich nicht lumpen: "Von den Bauarbeiten werden wir nicht viel mitbekommen, da sie fast ausschließlich auf Bahngelände oder im Tunnel stattfinden."

Nun entstellen klaffende Baugruben das Stuttgarter Stadtbild zwar bereits seit Jahren. Dennoch sind solche Äußerungen vergleichsweise Peanuts angesichts der mittlerweile eingetretenen Tatsachen, zuletzt also auch um die Eröffnung. Wieder einmal ist klar geworden, dass zum bereits vielfach nach hinten verschobenen Termin Ende 2025 erneut kein reibungsloser Start hingelegt werden kann. Am 20. März wird sich der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn deshalb unter anderem mit zwei Alternativen befassen dürfen, die beide einem weiteren Offenbarungseid gleichkommen in der langen Reihe derselben. Erstens wird eine ratenweise Inbetriebnahme diskutiert werden, bei der der (vorhandene und funktionsfähige) Kopfbahnhof weiter genutzt wird und die Zahl der im Tiefbahnhof verkehrenden Züge behutsam angehoben wird. In diesem Fall würde also auch 2026 noch ein Kopfbahnhof-Fahrplan gelten und insofern erst einmal alles beim Alten bleiben. Die Bahn müsste sogar frisches Geld in arg sanierungsbedürftige Anlagen stecken. Die zweite Option wäre, die Eröffnung mal wieder zu verschieben.

Natürlich sind nicht alle Probleme hausgemacht. Der Angriffskrieg auf die Ukraine oder der Verkauf eines für die Digitalisierung hauptzuständigen Ditzinger Unternehmens vom französischen Mutterkonzern an Japaner, denen jetzt Personal fehlt. Bei vielen der Unwuchten spielt aber die Verwechselung von Wunsch und Wirklichkeit eine fatale Rolle. Erstmals in Deutschland werde ein Bahnknoten und damit eine ganze Region digital ertüchtigt, übt sich die Bahn immer wieder in Selbstlob. Höchstfraglich ist allerdings, bis wann.

Der erneute Verzug kommt wenig überraschend

Geplant und gebaut wird die neue herausfordernde Technik samt einer Vorbereitung auf den teilautonomen oder sogar autonomen Betrieb in drei Stufen. Unstrittig unter Fachleuten ist aber, dass erst im Endausbau bis zu den Endstationen aller S-Bahnen in der Region auch der volle Nutzen für die Leistungsfähigkeit erreicht werden kann. "Wer mit Stuttgart 21 vertraut ist, konnte kaum überrascht sein, dass der immer wieder steif und fest behauptete Eröffnungstermin niemals zu halten sein würde", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme des "Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21". Denn ein derart hoch komplexes elektronisches Zugsteuerungssystem zu installieren, noch dazu in einem der schwierigsten Bahnknoten Deutschlands, sei nicht in wenigen Jahren zu leisten.

Eine schrittweise Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs könnte die Reaktion auf Komplikationen jedenfalls erleichtern. Vor allem in den Augen jener, die den Eröffnungstermin 2025 festgeklopft haben, käme sie jedoch einer Niederlage gleich. "Mit zunehmendem Projektfortschritt wächst jedoch naturgemäß die Wahrscheinlichkeit von nicht vorhersehbaren Einflüssen", sagte Projektleiter Olaf Drescher vor drei Jahren. Da stand er, als sechster in der Riege der Amtsinhaber, erst einige Monate an der Spitze der Geschäftsführung der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU). Immer wieder beschreibt er sich selber als einen, der an Terminen für Inbetriebnahmen gemessen werde.

Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) wiederum warnt vor einem "Holperstart", der "fatal wäre". Schon nach dem Treffen der Projektpartner:innen im Lenkungskreis Ende 2023 wies er zum wiederholten Male auf die Komplexität des Vorhabens hin und darauf, dass hier alles neu ist: digitale Technik, Infrastruktur, Bahnhof, Züge, Personal und Fahrplan. Es müsse alles getan werden, dass Testzeiten und Probefahrten stattfinden und ohne Probleme gestartet werden könne.

Zeitdruck führt leicht zur Blamage

Kein gutes Beispiel ist die Strecke München-Berlin. Mit Pomp und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde 2017 in das von Bahnchef Richard Lutz ausgerufene "neue Bahnzeitalter" gestartet. Leider blieben aber schon die ersten Sprinter liegen, weil die Züge neue Signale nicht erkennen konnten. Kurz vor der offiziellen Eröffnung vor gut sieben Jahren kamen Details ans Tageslicht: mangelhafte Abarbeitung des sogenannten Lastenhefts, zu kurze Einweisung des Zugpersonals, fehlende Tests und dass der Bahn-Vorstand den Starttermin "mit erheblichem Druck" dennoch durchgesetzt habe. Forderungen nach einer Verlängerung der Testphase sollen unter Verweis auf die Kosten abgelehnt worden sein.

An dieser Stelle kommen die Strateg:innen der Südwest-CDU ins Spiel. Die Altvorderen Thomas Strobl oder Guido Wolf, Peter Hauk, Wolfgang Reinhart, Steffen Bilger oder Nicole Razavi sind Hardliner seit jeher, unempfänglich für Warnungen aller Art und über Jahre auch für die vielen belastbaren Prognosen zum Thema Kostenexplosion. Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel hätte aber die Gnade der späten Geburt für sich in Anspruch nehmen und behaupten können, schon immer eine gewisse Skepsis gegenüber Stuttgart 21 empfunden zu haben.

Er mag aber nicht. Schon bei der Volksabstimmung 2011 und als Gemeinderat in Ehingen warb der heute 35-Jährige für das Milliardenprojekt, fabulierte in seinem ersten Landtagswahlkampf über den Anschluss an "europäische Zugverbindungen" – ganz so, als wäre Baden-Württemberg abgehängt. Er steht ebenso felsenfest zu dem Projekt wie viele andere. Mehrfach legte er sich in seiner Zeit als Generalsekretär der Landes-CDU mit dem grünen Verkehrsminister an, aber einmal ganz besonders. Hermann hatte von "der größten Fehlentscheidung in der Eisenbahngeschichte" gesprochen, für Hagel war das ein "Tritt in den Hintern eines jeden Demokraten", eine "getarnte Beschimpfung der Mehrheit, die bei der Volksabstimmung zu S 21 für moderne Verkehrswege votiert hat". Das werde die CDU nicht tolerieren.

Mit den neuen unangenehmen Enthüllungen rund um die Eröffnung 2025 könnte die Toleranzgrenze noch auf ein ganz anderes Niveau gehoben werden. Denn stottert der Start, fallen die Probleme in die heiße Phase des Landtagswahlkampfs 2026. Für viele Wähler:innen im Land ist S 21 gegenwärtig aus dem Fokus gerückt. Die zahlreichen Falschdarstellungen, die sich CDU-Politiker:innen in der langen Projektgeschichte geleistet haben, kämen im Wahlkampf aber neu aufs Tapet, ebenso die Fehleinschätzungen, die Unterstellungen, tollkühne Prognosen, Loblieder oder wie Grüne im Landtag am Volksabstimmungsabend im November 2011 von schwarzen Anhänger:innen und Abgeordneten mit "Lügenpack"- und "Hermann raus, Hermann raus"-Sprechchören niedergeschrien wurden.

Ein unbebautes Gleisvorfeld hat auch Vorzüge

Stuttgarts OB Frank Nopper hätte seit dem Lenkungskreis vor Weihnachten 2023 wissen können, dass sich was zusammenbraut. Gegenüber Kontext behauptet er, "im ständigen Austausch mit den Verantwortungsträgern der Deutschen Bahn" zu sein und dass die "weiterhin den Dezember 2025 als Zeitpunkt der Inbetriebnahme nennt". Ausführlicher antwortet der grüne Baubürgermeister Peter Pätzold. Für die Landeshauptstadt müsse die vollständige Inbetriebnahme des künftigen Durchgangsbahnhofs als Ersatz für den heutigen Kopfbahnhof und die damit verbundene Außerbetriebnahme des gesamten Gleisvorfeldes das primäre Ziel aller Bemühungen sein, sagt er. Und dass die Auswirkungen einer möglichen Kombilösung nicht geprüft werden könnten, weil die Bahn weder Konzept noch Pläne vorgelegt habe.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann ("Der Käs‘ isch gesse") ist auch noch eben auskunftsfreudig, wiewohl er im Laufe der Zeit Dutzende Male mehr Transparenz und bessere Informationen durch die DB angemahnt hat, die es diesmal – offiziell – wieder nicht gibt. Nicht zum Stand der Dinge und erst recht nicht zu den Auswirkungen des Streichkonzerts im Bundeshaushalt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf laufende Bahnprojekte. Eines allerdings steht fest: Eröffnen könnte Kretschmann den Tiefbahnhof nur, wenn die Zeremonie nicht verschoben wird. Denn zum Fahrplanwechsel 2026 ist der Grüne in Pension.

Noch ganz andere Pläne wälzt "Die FrAktion" im Stuttgarter Gemeinderat in den wichtigen Wochen vor der nächsten Aufsichtsratssitzung. Stadtrat Hannes Rockenbauch beschäftigt die Idee, ganz und gar an Kopfbahnhof-Gleisen festzuhalten und damit das alte Kompromisspapier von Heiner Geißler und dem Schweizer Bahnexperten Werner Stohler wachzuküssen. Die riesigen Kollateralnutzen: Alle Kapazitäts- und Ausbauversprechen im Fern- wie im Nahverkehr könnten samt der Gäubahn gehalten werden; die Stadt müsste auf die Rosensteinbebauung verzichten, was im Kampf gegen die Erderwärmung ohnehin kein Schaden wäre. Eine entsprechende Anfrage an die Stadtverwaltung liegt bereits vor. "Es wird immer deutlicher, dass die oberirdischen Gleise dringender denn je nötig sein werden und eine Bebauung des Rosensteinareals immer illusorischer wird", heißt es in der Begründung. Könnte gut sein, dass auch die Prognose am Ende stimmt – nach dem ungeschriebenen Gesetz seit inzwischen mehr als dreißig Jahren, dass die Tiefbahnhofsgegner:innen am Ende fast immer recht behalten sollten.

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1 Kommentar verfügbar

  • Claudio
    am 11.03.2024
    Antworten
    Das Projekt hat die Politik so dermaßen verbockt, das will nicht mal mehr jemand kommentieren. Einfach traurig.
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