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Gäubahn-Modell

"Einzig dastehende Anlage"

Gäubahn-Modell: "Einzig dastehende Anlage"
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Hätten der damalige Bahnchef Heinz Dürr und Konsorten mit Wolfgang Freys Modellbahn gespielt statt mit dem Hubschrauber übers Gleisvorfeld zu fliegen, wäre Stuttgart 21 wohl nicht gebaut worden. Denn dann hätten sie begriffen, was das alte Schienengewirr leistet.

Warum es technisch keinerlei Problem darstellt, die Gäu- oder Panoramabahn vom Stuttgarter Nordbahnhof trotz Verlegung der S-Bahn-Trasse weiterhin bis zum Hauptbahnhof zu führen: Um diese komplexe Frage begreiflich zu machen, stützte sich der Bahn-Kenner Hans-Jörg Jäkel jüngst beim Gäubahngipfel im Stuttgarter Rathaus auf die große Modelleisenbahnanlage von Wolfgang Frey (siehe Video).

Hans-Jörg Jäkel erklärt die Gäubahn- und S-Bahn-Anbindung an den Stuttgarter Kopfbahnhof anhand des Modells von Wolfgang Frey.

Die räumliche Komplexität dieser Situation lässt sich auf keine andere Weise besser verdeutlichen als an Freys Modell, das seit zwei Jahren im Hindenburgbau steht. Modellbahn oder Stadtmodell, mal bezeichnet als "Stellwerk S", mal als "Miniaturwelten Stuttgart". Was ist es denn nun eigentlich?

Ist es "das bedeutendste Kunstwerk der 70er/80er-Jahre auf der ganzen Welt", wie der emeritierte Ästhetik-Professor Bazon Brock meint? Ob sich der 2012 verstorbene Wolfgang Frey in diesen Worten wiedergefunden hätte, darf bezweifelt werden. Es handelt sich zunächst einmal um eine Modelleisenbahnanlage. Bis zu 2.500 Züge ließ Frey einst an einzelnen Tagen vor einer Handvoll ausgewählter Besucher:innen in einem Nebenraum der S-Bahn-Station Schwabstraße über die Modellschienen rollen.

Allerdings sind Modellbahnen in der Regel reine Fantasiewelten. An den kleinen, fahrenden Zügen entzündet sich die Vorstellungskraft von Kindern und Erwachsenen. Die putzigen, selten mehr als zweigeschossigen Häuschen tragen dazu bei.

Völlig anders bei Frey. Allein der Bahnhof im Maßstab 1:160 ist mehr als einen Meter breit, der Südflügel 1,70 Meter lang. Das sprengt bei Weitem die Dimensionen üblicher Modellbahnanlagen. Aber Frey wollte mehr, nämlich den gesamten Stuttgarter Bahnbetrieb abbilden: vom Vorfeld im Bereich der unteren Königstraße über die Gleisanlagen bis zum Westbahnhof und nach Bad Cannstatt. Dazu gehört auch sein Nachbau der original großen, voll funktionsfähigen Stelltafel.

Viel detailverliebter als andere Stadtmodelle

Rainer Braun, der das Modell 2017 mit dem Modellbahnclub Herrenberg aus den feuchten Räumen an der S-Bahn-Station Schwabstraße ausgebaut hat und nun die Miniaturwelten Stuttgart betreibt, spricht deshalb eher von einem Stadtmodell. Tatsächlich zeigt das Modell detailgetreu einen Teil Stuttgarts: vom Parkhaus der Galeria Kaufhof und dem Schlossgartenhotel bis zum Bahnpostamt und darüber hinaus.

Stadtmodelle gibt es viele, auf der ganzen Welt. Sie stehen im Museum oder auf der Straße und dienen verschiedenen Zwecken: von der Erinnerung an eine frühere Epoche bis zur Planung neuer Stadtteile. Im Maßstab 1:1.000 gibt es solche Modelle auch in Stuttgart: im Stadtpalais, vor der Stiftskirche oder auch das eingelagerte Modell des Architekten Roland Ostertag.

New York, Beijing, Shanghai und Bangkok haben für sechs- bis siebenstellige Summen riesige Stadtmodelle eigens in Auftrag gegeben. Sie zeigen die ganze Stadt und können daher – auch wenn charakteristische Bauten erkennbar sind – mit Freys Liebe zum Detail bei Weitem nicht mithalten.

Historische Modelle in Wien, Prag oder Zürich wurden angefertigt, um in einer Zeit der Umbrüche einen früheren Zustand festzuhalten. Im Maßstab 1:400 oder 1:500 sind zwar viele Einzelheiten erkennbar. Aber immer noch nicht so detailliert wie bei Frey, der eine Umbruchsituation nicht mit nostalgischem Blick zurück in vergangene Zeiten zeigt, sondern moderne, zum Teil ganz neue Bauten wie das Cannstatter Carré.

Völlig einzigartig sind dabei, zumindest in dieser Größe, die Bahnanlagen. Das Washington State Museum etwa zeigt sich stolz auf ein 90 Quadratmeter großes Modell, angefertigt in fünfjähriger Arbeit von einem Club von Bahningenieur:innen, das die Bahnanlagen von Tacoma um 1950 rekonstruiert. Freys Modell ist doppelt so groß, gebaut hat er daran etwa 30 Jahre lang.

Die effizienteste Art des Pendelns

Ein Unikat ist aber nicht nur sein Modell: Auch die Konstruktion, die es darstellt, das sogenannte "Tunnelgebirge" sucht seinesgleichen. Die im Bahnjargon als Überwerfungsbauwerke bezeichneten – also Brücken, Tunnel, Unterführungen oder ähnliches – Gleisgebirge zwischen dem Stuttgarter Haupt- und Nordbahnhof bezeichnete deren Erbauer Karl Schaechterle als "eine in der Geschichte der Eisenbahn-Technik wohl einzig dastehende Anlage". Hans-Peter Münzenmayer, ehemaliger Referent für technische Kulturdenkmale am Denkmalamt, hat dies in einer Broschüre des Vereins zur Förderung und Erhaltung historischer Bauwerke herausgearbeitet. Die Überwerfungsbauten standen unter Denkmalschutz.

Sie sind aber nicht nur ein Denkmal, ein Relikt vergangener Zeiten. Sie stellen die effizienteste Art und Weise dar, wie Bahnfahrende in die Stadt herein und wieder hinaus gebracht werden können. Knapp 100 Meter breit ist das Gleisvorfeld an der schmalsten Stelle in der Nähe des früheren Ufa-Palasts, dem Frey in seinem Modell ebenfalls ein Denkmal gesetzt hat. Auf drei Ebenen überschneiden sich 19 Gleise in Richtung Bad Cannstatt (unten), Feuerbach (Mitte) und zur Gäubahn (oben).

Kein S-Bahn-Provisorium nötig

Derzeit überquert die Gäubahn die S-Bahn-Gleise in und aus Richtung Feuerbach. Um die Anbindung an die neue Station Mittnachtstraße zwischen Nordbahnhof und Rosensteinviertel herzustellen, müsse die S-Bahn provisorisch auf den Gäubahndamm hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter geführt werden, hatte die Bahn 2006 in der Planfeststellung angegeben. Doch diese Idee hat sie inzwischen längst beerdigt. Nach ihrer eigenen Machbarkeitsstudie von 2018 wäre ein Weiterbetrieb der Gäubahn bis zum Hauptbahnhof problemlos möglich.

Gründungskonferenz Gäubahn-Bündnis

"Wir wollen zum Hauptbahnhof", sagt die Initiative Pro Gäubahn Rottweil. Am Samstag, dem 9. März um 14 Uhr lädt sie zur Gründungskonferenz eines überregionalen Gäubahn-Bündnisses. Der frühere Schweizer Bahnchef Benedikt Weibel rät, auch Schaffhausen und Zürich mit einzubinden, die ebenfalls die Bahnlinie bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof erhalten wollen.  (dh)

Bis zu zwanzig-, dreißigtausend Menschen bringt dieses "Gleisgewurstel", wie der frühere Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) es genannt hat, stündlich ins Stadtzentrum und wieder hinaus, und das seit 100 Jahren. Wenn dieselbe Zahl mit dem Privatauto käme, zusätzlich zu denen, die das ohnehin schon tun, müssten die Zufahrtstraßen mindestens doppelt so breit sein. Die gesamte Innenstadt müsste aus Parkhäusern bestehen. Diese Erkenntnis war der Auslöser für den S-Bahn-Bau in den 1970er-Jahren.

Freys Modell macht die Funktion des Gleisgebirges im fast wörtlichen Sinn begreifbar. Wie ein Architekturmodell, das dazu da ist, die dreidimensionale Form eines Gebäudes von allen Seiten vor Augen zu führen, erlaubt es, das Gleisvorfeld mit seinen verschiedenen Ebenen und Richtungen, den Bahndämmen, Überbrückungs- und Tunnelbauwerken aus allen Richtungen zu betrachten. Und dies nicht nur statisch, sondern im Betrieb mit bis zu 2.500 Zügen.

Ohne Geld wird das Modell Stuttgart verlassen

Wäre er damals mit seinem Modell schon soweit gewesen, hätten der Bahnchef Heinz Dürr, Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU), Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) und Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), statt mit dem Hubschrauber über die Gleise zu fliegen, ihn in der Schwabstraße besucht und sich das Modell vorführen lassen, hätte Dürr später nicht sagen können: "Da gab es Flächen, die wir gar nicht mehr brauchten."

Diese Flächen werden weiterhin gebraucht, mehr denn je in Zeiten einer notwendigen Verkehrswende. Der achtgleisige Untergrund-Bahnhof, der jetzt gebaut wird, wird da nicht mitkommen. Das belegt erneut die aktuelle Studie von Karlheinz Rößler und Klaus Wößner, die zu dem Ergebnis gelangt, dass schon bei kleineren Betriebsstörungen ein Teil des Verkehrs zum Erliegen kommt, bis hin zur völligen Blockade.

Aber zur Zeit des ominösen Hubschrauberflugs Anfang der 1990er-Jahre fing Frey gerade erst richtig an. Man kann sein Modell als Eisenbahnanlage, als in Teilen bereits historisches Stadtmodell, als Denkmal der Ingenieurleistung Karl Schaechterles oder als ein Lehrmodell betrachten, wie man unter beengten Verhältnissen einen effizienten Schienenverkehr organisiert: Es gibt mehr als genug Gründe, warum diese einmalige Anlage im Hindenburgbau auch weiterhin öffentlich zugänglich sein sollte.

Doch Rainer Braun, Betreiber der Miniaturwelten Stuttgart, steckt in Schwierigkeiten. Der anfängliche Andrang hat nachgelassen. Auf Anraten von Stadt und Land hat er eine gemeinnützige GmbH gegründet, um Fördermittel beantragen zu können, die ihm der Gemeinderat dann aber nicht gewährt hat. Mit 100.000 Euro im Jahr wäre er auf der sicheren Seite. Museen mit vergleichbaren Besucher:innenzahlen brauchen erheblich mehr.

Nun benötigt Braun mehr Besucher:innen oder Spenden, um seine Mitarbeiter:innen bezahlen zu können. Wenn sich keine Lösung findet, wird das einzigartige Modell Stuttgart verlassen. Für immer.


Miniaturwelten Stuttgart, Öffnungszeiten und Eintrittspreise. Zur Spendenkampagne.

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3 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 09.03.2024
    Antworten
    Jetzt habe ich in dieser Ausgabe schon mehrfach gelesen, dass die Grünen Geld für Tamponautomaten auf Herrentoiletten ausgeben möchten.

    Das sind dich Fakenews, oder? Das traue ich jetzt nichtmal Vertretern der ökosozialen Truppe zu.
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