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Klage zu Stuttgart-21-Mehrkosten

"Dann hat Stuttgart eine schöne Ruine"

Klage zu Stuttgart-21-Mehrkosten: "Dann hat Stuttgart eine schöne Ruine"
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Lässt sich aus der Vorgeschichte des 2009 geschlossenen Finanzierungsvertrages für Stuttgart 21 schließen, dass die Bahn von ihren S-21-Partnern eine Beteiligung an den Mehrkosten fordern darf? Eindrücke vom dritten Verhandlungstag der Bahn-Klage.

Olaf Drescher ist ein meist heiter wirkender Zeitgenosse, und zumindest er rückt an diesem Tag die Bereitschaft für Geldzuwendungen in den Bereich des Möglichen. "Vielleicht später", antwortet der Stuttgart-21-Projektchef beim Betreten des Verwaltungsgerichts auf die Frage, ob er denn ein Notopfer für die Stadt Stuttgart beisteuern möchte. Stuttgart-21-Kritiker:innen haben vor dem Gerichtsgebäude einen kleinen Opferstock aufgestellt. Hintergrund der Aktion: Die Landeshauptstadt muss eventuell drei- bis vierstellige Millionenbeträge zusätzlich für die Finanzierung von S 21 beisteuern, falls die Bahn mit ihrer laufenden Klage Erfolg hat. Die Klärung dieser Frage dürfte allerdings noch dauern.

Darum geht's bei der Bahn-Klage

Im April 2009 schloss die Deutsche Bahn mit den sogenannten Projektpartnern – Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart, Verband Region Stuttgart und Flughafen Stuttgart – den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21. In dem ist die Aufteilung der Kosten haarklein geregelt, aber nur bis zu Projektkosten von rund 4,5 Milliarden Euro. Als der Vertrag unterzeichnet wurde, kalkulierte man noch mit 3,076 Milliarden Euro Kosten, plus einem Risikotopf von 1,45 Milliarden. Wer von den Beteiligten wie viel genau in diesen Topf zahlen sollte, war in Paragraf 8, Absatz 3 des Vertrags genau festgehalten. Zusammengerechnet: Das Land beteiligt sich inklusive Risikopuffer mit maximal 930 Millionen Euro am Projekt, die Stadt mit 292, die Region mit 100 und der Flughafen mit 227 Millionen. Was passiert, wenn der Risikotopf nicht reicht, ist in Paragraf 8, Absatz 4 des Vertrags geregelt: "Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die EIU (Eisenbahnunternehmen, also DB AG und Töchter, d. Red.) und das Land Gespräche auf." Was genau aus dieser sogenannten "Sprechklausel" folgt und wie sie zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

Mittlerweile liegen die Projektkosten nach drei Steigerungsrunden bei 9,8 Milliarden Euro (inklusive 640 Millionen Risikopuffer), und manches deutet darauf hin, dass die nächste Erhöhung auf knapp zwölf Milliarden ansteht. Weil sich die Projektpartner weigern, sich daran zu beteiligen, reichte die DB im Dezember 2016 Klage auf Übernahme der Mehrkosten gegen sie ein. Am 8. Mai 2023 war der erste Verhandlungstermin am Verwaltungsgericht Stuttgart, weitere folgten am 1. August und am 18. September. Richter Wolfgang Kern geht davon aus, dass das Verfahren durch weitere Instanzen gehen und mehrere Jahre dauern wird.  (os)

Während am vergangenen Donnerstag in Sachen Stuttgart 21 mit dem letzten Tunneldurchstich handfeste Tatsachen gefeiert werden, bleibt es vier Tage später vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart – erwartungsgemäß – weiterhin völlig unklar, wer denn nun die enormen Mehrkosten des Projekts übernehmen soll. Seit Dezember 2016 klagt die Deutsche Bahn AG gegen ihre vier Projektpartner Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart, Regionalverband Stuttgart und Flughafen Stuttgart, damit diese sich daran beteiligen. Seit Mai 2023 wird verhandelt (siehe Kasten), am vergangenen Montag, 18. September, war der dritte Verhandlungstag. Wieviel konkret die Bahn von den Beklagten gerne hätte, hat sie in der Sitzung im August dargelegt. Auf Land und Stadt kämen demnach bis zu 4,7 Milliarden Euro Mehrkosten zu (Kontext berichtete).

Worum geht es genau? Im Grunde um die Auslegung der sogenannten Sprechklausel des im April 2009 geschlossenen Finanzierungsvertrags: Sollten die Projektkosten die im Vertrag maximal geregelten 4,526 Milliarden Euro übersteigen, nehmen die Projektpartner Gespräche auf. Spoiler: Es wird auch am dritten Verhandlungstag nicht geklärt, wie denn die Sprechklausel exakt zu interpretieren ist. Impliziert sie eine grundsätzliche Bereitschaft der Projektpartner, sich an möglichen Mehrkosten zu beteiligen, die über das vertraglich Geregelte hinausgehen? Oder einfach nur mehr oder weniger unverbindliche Gespräche, wie man in so einem Fall weiter zu verfahren gedenke? Die Bahn, hier die Klägerin, ist der Meinung, ersteres sei klar der Fall. Die zweite Variante dagegen ist die unverrückbare Position der vier Projektpartner. Der am 2. April 2009 geschlossene Finanzierungsvertrag hat dies nicht exakt geregelt.

Kleine Geschichtsstunde: Wie war das 2007 und 2009?

Um etwas Licht in die Sache zu bringen, hat der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern an diesem Sitzungstermin eine kleine Geschichtsstunde angesetzt: Es geht um die Historie der Vertragsanbahnung, um das sogenannte Memorandum of Understanding vom 19. Juli 2007, in dem die späteren Vertragspartner ihren grundsätzlichen Willen erklärten, das Projekt durchzuführen und sich vertraglich auf eine Finanzierung zu einigen. Und es geht um die Aushandlung des schließlich fast zwei Jahre später geschlossenen Finanzierungsvertrags. Nur am Rande: 15 Jahre nachdem im April 1994 das Projekt vorgestellt worden war. Die Projekt-Kritiker:innen waren an dieser langen Dauer gänzlich unbeteiligt. Die lag vor allem an den Problemen, das Projekt finanziert zu bekommen und die Kostenaufteilung zu regeln. Ein, wie der Prozess zeigt, andauerndes Problem.

"Gibt es aus der Vertragsanbahnung etwas, woraus man auf die Auslegung der Sprechklausel schließen könnte?", fragt Richter Kern, um dann den Part des Geschichtslehrers dem beigeordneten Richter Daniel Schachtner zu überlassen. Dessen Ausführungen zeigen, dass schon das Zustandekommen dieser beiden Dokumente eine komplizierte Angelegenheit war: Verschiedene Entwürfe habe es schon zu dem Memorandum von 2007 gegeben, im endgültigen sei dann eine Gesprächsklausel vorgesehen gewesen für unerwartete Kostensteigerungen. Für die erwarteten sei damals noch ein Risikopuffer von einer Milliarde Euro veranschlagt worden. Und das Land habe sich im Vorfeld des Memorandums bereit erklärt, auf eine Reduzierung seiner Beiträge angesichts einer bereits geleisteten Vorfinanzierung zu verzichten. Im Gegenzug habe sich schon wenige Tage nach der Unterzeichnung des Memorandums der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) in der Pflicht gefühlt, Befürchtungen einer unkalkulierbaren finanziellen Belastung des Landes zu zerstreuen. Im Landtag habe er in einer Regierungserklärung zum Memorandum betont, alle Finanzierungen sollten berechenbar bleiben, und das Land solle nicht unbegrenzt haften.

Noch verzwickter waren dann gemäß Schachtners Ausführungen die Vorverhandlungen zum Finanzierungsvertrag. Mehrere Entwurfsfassungen seien kursiert, mal mit Gesprächs- oder Sprechklausel, mal mit einer Verhandlungsklausel, die aus heutiger Sicht das Vorgehen konkreter geregelt hätte. Am Ende wurde es eine Sprechklausel, in den Entwürfen ab Oktober 2008 in der jetzigen Form. Umstritten bei den Vorverhandlungen sei gewesen, ob das Projekt bei einem Scheitern der Sprechklauselgespräche abgebrochen werden solle. Das Land hatte dies gefordert, die Bahn hatte sich dem aber widersetzt – und sich am Ende durchgesetzt.

Dass man sich möglicher Probleme schon früh bewusst war, zeigt ein interner Vermerk des Landes vom 6. November 2009, sieben Monate nach der Vertragsunterzeichnung: Dem ließe sich laut Schachtner entnehmen, dass sich die damalige Landesregierung klar war darüber, dass bei einer Überschreitung des Kostenrahmens finanzielle Forderungen auf das Land zukommen werden.

Kostensteigerungen als "Restrisiko"

Im Gegensatz dazu erstaunt in der Gerichtssitzung am 18. September die von den Projektpartnern zur Schau gestellte Naivität. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses 2009 sei es für sie überhaupt nicht vorstellbar gewesen, dass die Kosten über die, inklusive Risikopuffer, festgeschriebenen 4,5 Milliarden Euro hinausgehen könnten, sagen sinngemäß alle. Seltsam, dass der Bundesrechnungshof schon 2008 hohe Kostenrisiken und das Projekt eher bei "deutlich über 5,3 Milliarden" sah. Und Rechtsanwalt Henning Berger, der das Land vertritt, versteigt sich einmal sogar zu der Formulierung, die Kostenrisiken, für die man die Sprechklausel in den Vertrag nahm, seien so wenig für möglich gehalten worden, dass man "im Atomrecht von einem Restrisiko sprechen würde". Diese Terminologie weitergeführt, ist nun der Super-Gau eingetroffen.

Trotzdem betonen sowohl Berger als auch die Anwälte von Stadt, Regionalverband und Flughafen im weiteren Verlauf der Sitzung, wie wichtig ihren Mandanten schon in diesen Vorverhandlungen war, die eigenen Finanzierungsbeteiligungen zu deckeln, und dass dies immer wieder offen kommuniziert wurde. Berger verweist auf den Haushaltsvorbehalt, den das Land bei der Finanzierung solcher Projekte habe, dass die Bahn dies akzeptiert habe und dass für das Land klar gewesen sei, dass die Bahn eventuelle Mehrkosten trage. Winfried Porsch, der die Stadt Stuttgart vertritt, verweist auf einen Gemeinderatsbeschluss vom Oktober 2007 zur im Memorandum geregelten Kostenaufteilung und auf eine Aussage des damaligen Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster (CDU) im Gemeinderat kurz darauf: Die Stadt werde keine weiteren Kosten übernehmen.

Auch bei den Ausführungen der Anwälte von Regionalverband und Flughafen entsteht der Eindruck, man habe den Finanzierungsbeteiligungen eher zähneknirschend zugestimmt. Und auch nur, weil man den ein oder anderen Vorteil des Projekts gesehen habe – aber wirklich nur, wenn die Kosten gedeckelt blieben.

"Die Bahn ist zum Jagen getragen worden"

Das bringt Bahn-Anwalt Ulrich Quack irgendwann in Rage. Es sei nie die Rede davon gewesen, dass die Bahn alle über 4,5 Milliarden hinausgehenden Kosten alleine tragen solle, echauffiert er sich. Und überhaupt, "ich will es flapsig sagen: Die Bahn ist zum Jagen getragen worden. Die Vertragspartner hatten ein großes Interesse an dem Projekt." Damit hat Quack durchaus Recht, wie auch Kontext immer wieder dargelegt hat (zum Beispiel hier). Wie groß das Interesse des Landes war, zeige sich schon daran, dass es entgegen der ursprünglich von der Bahn geplanten Neubaustrecken-Trasse von Ulm zum neuen S-21-Tiefbahnhof eine Führung über den Stuttgarter Flughafen durchsetzte – von der die Bahn mäßig begeistert war (Kontext berichtete).

Allerdings wäre Mitleid mit der Bahn nun auch nicht angebracht. Hätte sie sich 2009 bei den Verhandlungen zum Finanzierungsvertrag nicht gegen das Land durchgesetzt, das bei einem Scheitern von Sprechklauselgesprächen den Projektabbruch wollte, wäre Stuttgart 21 möglicherweise 2015 beendet gewesen. Stattdessen setzte die Bahn durch, dass ein Projektabbruch vertraglich ausgeschlossen wurde, wie auch Quack betont. Die Verträge seien als Falle konstruiert, hatte ein baden-württembergischer Grünen-Politiker, einst vehementer S-21-Gegner, einmal treffend formuliert.

Bleibt, immer wieder, die Frage, warum gerade die Mehrkostenfrage so unklar, so mangelhaft geregelt wurde. Stadt-Anwalt Porsch: "Mehr war halt nicht zu erreichen."

Abschließen und warten, bis alles verfallen ist?

Das ärgert wiederum Quack, der farbenfroh die Konsequenzen schildert, die Porschs Aussage seiner Ansicht nach hat: "Wenn man sagt, mehr gab der Vertrag nicht her, und dann ist bedauerlicherweise am Ende der 4,5 Milliarden das Projekt noch nicht fertig, was geschieht dann? Dann verlassen alle die Baustelle, es wird mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen, und man wartet, dass in 300 Jahren das Ganze verfallen ist? Soll das eine sinnvolle Vertragsauslegung sein?"

Nun entscheide das Gericht nicht darüber, ob die Bahn das Projekt zu Ende bauen müsse, betont Richter Kern, sondern darüber, ob die Bahn einen Anspruch habe, von den Projektpartnern eine Mitfinanzierung der Mehrkosten einzufordern. Doch natürlich sei es eine "spannende Frage", sagt Kern, was passiere, wenn niemand der Beklagten zahlen müsse. "Wenn die Bahn sagt, wir haben auch kein Geld, dann hat Stuttgart eine wunderschöne…" – "Ruine!", ergänzt Quack, was eine gewisse Heiterkeit im Gerichtssaal hervorruft.

Nicht geklärt wird an diesem Montag auch die am vorangegangenen Verhandlungstag diskutierte Frage, ob die Klage der Bahn vielleicht schon verjährt sein könnte. Zwar räumt Kern ein, dass das Gericht durch Hinweise des Landes die Verkündung der ersten Kostensteigerungen durch die Bahn mittlerweile nicht erst 2013, sondern schon im Dezember 2012 sieht (worauf Kontext auch hinwies). Doch es sei noch nicht entschieden, ob es nicht der Position der Bahn folge, erst nach dem Scheitern der Sprechklauselgespräche 2015 setze die Verjährungsfrist ein. Ein Schriftsatz der Bahn dazu soll noch kommen.

Einige Zeit, sich zu entscheiden, hat das Gericht: Der nächste Termin ist erst in zwei Monaten, am 15. November.


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10 Kommentare verfügbar

  • Stefanie
    am 28.09.2023
    Antworten
    Nach diesen Verlautbarungen handelt es sich bei der "Sprechklausel" also um
    einen Platzhalter im Vertragstext. Man konnte sich auf keinen konkreten Umgang im Fall von Kostensteigerungen einigen, wollte aber trotzdem bauen, daher hat man sich mit diesem undeutbaren Platzhalter beholfen.
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