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Krankenhaus Herrenberg

Ein Leuchtturm wird plattgemacht

Krankenhaus Herrenberg: Ein Leuchtturm wird plattgemacht
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Das Herrenberger Krankenhaus mit seiner vorbildlichen Geburtsklinik soll auf ein Viertel seiner Größe eingedampft werden. Bürger:innen, Kommune und Hebammen protestieren.

Ein Krankenhaus soll weg, gegen den Willen von Bürger:innen und Kommune. Vorgesehen ist, die medizinische Notfallversorgung vor Ort zu reduzieren. Mit Geriatrie, Palliativmedizin und Geburtshilfe stehen gleich drei überregional renommierte Stationen auf der Streichliste.

Weshalb? Die Betroffenen, die Bürger:innen der Stadt Herrenberg, wüssten es gerne. Im Juli wurden sie, ganz ohne Vorankündigung, vor vollendete Tatsachen gestellt. Der Klinikverbund Südwest, 2006 entstanden durch die Zusammenlegung der Kreiskrankenhäuser Böblingen, Herrenberg und Leonberg, kehrte aus einer Klausurtagung zurück und verkündete das Ende: Aus einem Krankenhaus soll ein "integriertes Gesundheitszentrum" werden, die Zahl der Betten sinkt den Plänen nach von 150 auf 40, eine ambulante Notfallversorgung soll nur noch tagsüber verfügbar sein. Die Geburtskliniken in Herrenberg und Leonberg sollen geschlossen und in Nagold neu aufgebaut, die Altersmedizin fortan auf mehrere Standorte verteilt, andere Leistungen zunehmend im Böblinger Flugfeldklinikum gebündelt werden.

"Proaktiv" zu der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angestoßenen Gesundheitsreform wolle man sich mit diesem Schritt verhalten, sagt Böblingens Landrat Roland Bernhard (parteilos). Dass Druck gemacht wird, ein Beschluss noch in diesem Jahr gefasst werden soll, hat allerdings noch andere Gründe. Der Klinikverbund ist hoch verschuldet. Eine Umstrukturierung soll die Lage retten. Sie fußt auf einem Gutachten der Hamburger Unternehmensberater Lohfert & Lohfert. Es geht dabei in erster Linie also ums Geld, nicht um das Wohl der Patient:innen, nicht um die bestmögliche Versorgung von Müttern, Kindern, alten Menschen.

Herrenberg als Bauernopfer?

Unklar bleibt, ob dem Defizit des Klinikverbunds mit der Schließung des Herrenberger Krankenhauses überhaupt effektiv entgegengewirkt werden kann. Rund zwei Monate nach Bekanntwerden der Pläne hat die Stadt Herrenberg dem Verbund ein umfangreiches Paket mit Fragen der Gemeinderatsfraktionen und Forderungen der Verwaltung vorgelegt, das verdeutlicht, wie wenig Transparenz dem gesamten Vorgang zugrunde liegt. Antworten gibt es bislang keine.

Sehr wesentlich für Heike Voelker, Co-Vorsitzende der grünen Fraktion im Herrenberger Gemeinderat, ist die finanzielle Lage: Der Klinikverbund Südwest mit seinen fünf Häusern in Herrenberg, Leonberg, Nagold, Calw und Sindelfingen-Böblingen verursacht mit jährlich 70 Millionen Euro elf Prozent des Defizits aller Krankenhäuser im ganzen Land. "Wie kommt das?", fragt Voelker.

Schließt Herrenberg, müssen andere Standorte aufgebaut und neue Investitionen getätigt werden. Zahlt sich das aus? "Für mich", sagt Bodo Philipsen, Vorsitzender der SPD im Herrenberger Gemeinderat, "riecht das nach Verschwendung von Steuergeldern." Und auch Dieter Haarer, Fraktionschef der CDU im Herrenberger Gemeinde- und im Kreisrat, stellt sich gegen die Entscheidung. "So wie es war in Herrenberg", sagt er, "kann es nicht bleiben. Die Zukunft des medizinischen Bereichs ist offen, es wird Veränderungen geben. Aber so wie es hier geplant ist, darf es nicht werden." Auf keinen Fall glaubt Haarer, dass die Schließung des kleinsten Hauses im Verbund diesen Verbund retten könnte und das Defizit so ausgeglichen werden kann. "Ich selbst habe im Juli aus der Zeitung von der Sache erfahren, die Kreisräte waren nicht informiert, der Aufsichtsrat drängte schließlich an die Öffentlichkeit. Ich habe das Gefühl, dass Herrenberg zum Bauernopfer gemacht wird."

Bevölkerung will Notfallversorgung auch nachts

Die erste der 14 Forderungen, die die Stadt Herrenberg an Landkreis und Klinikverbund richtet, besteht darin, eine Notfallversorgung über 24 Stunden vor Ort aufrecht zu erhalten. Gefolgt von der Forderung nach einem Aufschub der Entscheidung über den Standort – und nach mehr Transparenz auf allen Ebenen: Patientenströme, betriebswirtschaftliche Zahlen, die absehbare Verschlechterung der Versorgung an unterschiedlichen Standorten durch die Schließung Herrenbergs, die Darstellung der Investitionskosten, die durch die Schließung erst entstünden – all das liege noch im Dunkeln.

Böblingens Landrat Roland Bernhard und Alexander Schmidtke, Geschäftsführer des Klinikverbundes, dankten zwar umgehend für die Anregungen, beharren jedoch auf einer schnellen Entscheidung: "Es soll Klarheit für alle Beteiligten geschaffen werden", sagen sie – was immer das bedeuten mag.

Von Geburtshilfe und Frauenheilkunde war dabei noch gar nicht die Rede. Über sie wird am 14. September gesprochen, einen Tag nach Abgabe des Fragenkatalogs, auf dem Sindelfinger Marktplatz. Dort informieren vier Hebammen und eine Fachärztin über die Situation. Einige von ihnen stehen beim Klinikverbund in Diensten, möchten namentlich nicht genannt werden. Nicht so Simone Müller-Roth: Sie ist Vorsitzende und Sprecherin des Hebammenverbandes im Kreis, freiberuflich als Hebamme tätig, außerdem als Gemeinderätin in Sindelfingen aktiv.

Die Geburtshilfe in Herrenberg sei ein Leuchtturmprojekt, bekräftigt Müller-Roth, über viele Jahre aufgebaut. Die Zertifikate eines babyfreundlichen Krankenhauses und die eines hebammengeführten Kreißsaals können nicht einfach an einen anderen Standort übertragen werden. Wohl kaum wäre das komplette Team der Herrenberger Geburtshilfe bereit, nach Nagold umzuziehen. Für viele Hebammen würde sich der Arbeitsweg verdoppeln, eine Durchmischung von mehreren Teams und Neuzugängen in Nagold wäre unvermeidlich – und ob dort je eine vergleichbare Qualität wie in Herrenberg erreicht werden könnte, stehe in den Sternen.

Alte Männer haben entschieden

"Freiberufliche Hebammen", sagt Simone Müller-Roth, "nehmen diesen Unterschied durchaus wahr: ob eine Frau in einem gut geführten Krankenhaus geboren hat oder in einem, das eher zu wünschen übriglässt. Es ist wichtig, dass die Frauen schon vor der Geburt gut betreut werden, damit das Stillen gut in Gang kommt, die Familie sich findet, zu einer Einheit werden kann."

Frauen stehen oft schon vor Schwierigkeiten, wenn sie auf der Suche nach einem Krankenhaus sind, in dem sie ihr Kind zur Welt bringen wollen. Denn die Häuser sind überfüllt. Auf dem Sindelfinger Marktplatz haben die Hebammen ein Kreißsaal-Roulette aufgebaut, um die Situation anschaulich zu machen: Wer auf dem roten Feld landet, hat Pech: "Wir sind komplett ausgelastet. Sie müssen leider in den sauren Apfel beißen und ihr Glück bei der nächstliegenden Klinik probieren."

Die Hebammen wünschen sich, dass der Landkreis in seinem medizinischen Konzept explizit vorschreibt, dass es ein babyfreundliches Krankenhaus und hebammengeführten Kreißsaal auch an einem neuen Standort geben wird. Dass man sich bemüht, Hebammen zu binden und mit ihnen gemeinsam eine qualitative Versorgung aufzubauen. Herauszuhören ist die Bereitschaft, sich mit Veränderungen zu arrangieren, und die Hoffnung auf ein Entgegenkommen des Landkreises.

Der bittere Geschmack allerdings bleibt. Simone Müller-Roth mahnt die Einbeziehung aller betroffenen Arbeitnehmer:innen an – "um die Weiterentwicklung einer wirklich sehr guten Geburtshilfe und Wochenbettbetreuung für alle Familien im Kreis Böblingen zu erreichen." Sie sagt: "Die Zahlen stimmen nicht. Im Kreis werden jährlich etwa 5.000 Kinder geboren. Wenn Leonberg und Herrenberg wegfallen, in Nagold ein neuer Standort aufgebaut wird – dann gibt es immer noch etwa 800 bis 1.000 Geburten jährlich, die im Landkreis nicht versorgt werden können."

Rund 1.300 Kinder in jedem Jahr kamen bislang in Herrenberg zur Welt, betreut von einem gut eingespielten Team, unter idealen Voraussetzungen. Doppelt so viele wie in Leonberg. Das Herrenberger Krankenhaus war der beste Ort für eine Frau, ein Kind zu gebären. Es stand im Ruf, den besten hebammengeführten Kreißsaal Deutschlands zu betreiben. Es soll verschwinden. "Dabei reden viele alte Männer mit", sagt Simone Müller-Roth. Von einer "Männerentscheidung" spricht auch eine andere Hebamme. Und Heike Voelker, die Herrenberger Gemeinderätin, die noch auf einen Aufschub der Entscheidung hofft, sagt: "Wir Frauen wissen, worum es dabei geht. Was geschehen soll, ist für uns nicht gut. Eine Geburt ist keine Blinddarmoperation."


Auf der Internet-Plattform Change.org rufen Bürger:innen dazu auf, die Schließung des Herrenberger Krankenhauses zu verhindern. Bis Redaktionsschluss hatten die Petition bereits fast 25.000 Personen unterschrieben.


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1 Kommentar verfügbar

  • Bernd Letta
    am 21.09.2023
    Antworten
    Zum Thema "bitte das Herrenberger Kreiskrankenhaus nicht platt machen", fällt mir ein, dass vor nicht all zu langer Zeit eine Obstbaumwiese für ein Parkplatzerweiterung des Krankenhausparkplatzes platt gemacht wurde - auch weitere Bäume und Büsche am Rande des Parkplatzes mussten weichen. Es war ein…
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