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Klage zu Stuttgart-21-Mehrkosten

Vor der Verkündung

Klage zu Stuttgart-21-Mehrkosten: Vor der Verkündung
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Nach einigen Verschiebungen wird vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart zum vierten Mal über die Mehrkostenklage der Bahn gegen die S-21-Projektpartner verhandelt. Am Ende kündigt Richter Wolfgang Kern eine Entscheidung an – die aber kein Urteil sein muss.

Hat etwas länger gedauert als erwartet – ein Satz, der im Zusammenhang mit Stuttgart 21 nicht gerade Seltenheitswert hat. Dass ganze sieben Monate seit dem dritten Verhandlungstag vergehen sollten, bis das Verwaltungsgericht Stuttgart in Sachen S-21-Mehrkostenklage am vergangenen Dienstag, 23. April, wieder zusammenkam, war aber doch erstaunlich und auch vom Gericht nicht so gewollt. Zweimal wurde der vierte Verhandlungstermin verschoben, "aus Gründen, die nicht nur an uns lagen", wie der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern sagt, weiter ins Detail geht er nicht.

Seit Dezember 2016 klagt die Deutsche Bahn AG gegen ihre vier S-21-Projektpartner Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart, Regionalverband Stuttgart und Flughafen Stuttgart, damit diese sich an den Mehrkosten von Stuttgart 21 beteiligen, die über die im Finanzierungsvertrag geregelten Summen hinausgehen. Denn diese bei Großprojekten nicht ganz unwesentliche Frage regelt der Vertrag leider nicht, zumindest nicht explizit. Seit Mai 2023 wird vor der 13. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts verhandelt. Und seit der letzten Sitzung im September hat sich in Sachen Stuttgart 21 einiges getan.

Im Dezember 2023 sickerte nach und nach durch – nicht sehr überraschend –, dass die Bahn den für Ende 2025 geplanten Eröffnungstermin für den neuen Tiefbahnhof nicht wird halten können. Entweder die Eröffnung wird nur teilweise oder gleich komplett nach hinten verschoben – welche Variante es letztendlich wird, darüber wollen die DB und ihre Projektpartner noch sprechen. Und der Aufsichtsrat der Bahn verkündete im Dezember eine weitere Kostensteigerung: Nach bislang rund 9,8 Milliarden Euro rechne man nun mit einem "Gesamtfinanzierungsrahmen" von 11,453 Milliarden für das Projekt. Auch keine Überraschung.

Darum geht's bei der Bahn-Klage

Im April 2009 schloss die Deutsche Bahn mit den sogenannten Projektpartnern – Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart, Verband Region Stuttgart und Flughafen Stuttgart – den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21. In dem ist die Aufteilung der Kosten haarklein geregelt, aber nur bis zu Projektkosten von 4,526 Milliarden Euro. Als der Vertrag unterzeichnet wurde, kalkulierte man noch mit 3,076 Milliarden Euro Kosten, plus einem Risikotopf von 1,45 Milliarden. Wer von den Beteiligten wie viel genau in diesen Topf zahlen sollte, war in Paragraf 8, Absatz 3 des Vertrags festgehalten. Zusammengerechnet: Das Land beteiligt sich inklusive Risikopuffer mit maximal 930 Millionen Euro am Projekt, die Stadt mit 292, die Region mit 100 und der Flughafen mit 227 Millionen. Was passiert, wenn der Risikotopf nicht reicht, ist in Paragraf 8, Absatz 4 geregelt: "Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die EIU (Eisenbahnunternehmen, also DB AG und Töchter, d. Red.) und das Land Gespräche auf." Was genau aus dieser sogenannten "Sprechklausel" folgt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Während die Bahn die Meinung vertritt, dass sie eine Fortschreibung der gemeinsamen Finanzierung bei Mehrkosten impliziere, weisen die Projektpartner dies zurück und beharren auf einer Deckelung ihrer Kosten im Finanzierungsvertrag.

Mittlerweile liegen die Projektkosten nach vier Steigerungsrunden, die letzte erst Ende 2023, bei 11,45 Milliarden Euro. Weil sich die Projektpartner weigern, sich daran zu beteiligen, reichte die DB Ende 2016 Klage auf Übernahme der Mehrkosten gegen sie ein – damals lagen die prognostizierten Gesamtkosten noch bei 6,5 Milliarden Euro. Am 8. Mai 2023 war der erste Verhandlungstermin am Verwaltungsgericht Stuttgart, weitere folgten am 1. August, am 18. September und am 23. April 2024. Richter Wolfgang Kern geht davon aus, dass das Verfahren durch weitere Instanzen gehen und mehrere Jahre dauern wird.  (os)

Der Betrag ist relativ nahe an dem "abstrakten Kostensteigerungsrisiko" von 11,776 Milliarden Euro, das der Bahn-Anwalt Ulrich Quack in der zweiten Verhandlungssitzung auf Drängen von Richter Kern festgelegt hatte. "Abstraktes Kostensteigerungsrisiko" heißt: Bis zu diesen Projektkosten fordert die Bahn in einem Klageantrag die finanzielle Beteiligung der Projektpartner und hat auch die genaue Aufteilung möglicher Mehrkosten skizziert – wobei es sich ausdrücklich nicht um die aktuellen tatsächlichen Kosten von Stuttgart 21 handele, wie Kern damals betonte. Er betonte auch, dass die DB den Betrag durchaus hätte höher wählen können – dass sie dies nicht getan hat, wirkt arg optimistisch, wo sich die konkreten stark den abstrakten Kostensteigerungen angenähert haben.

Doch um all diese Entwicklungen geht es nicht am vierten Verhandlungstag. Richter Kern will sich vor allem mit der Frage der Verjährung der Bahn-Ansprüche befassen. Davor fragt er noch einmal in die Runde der Kläger und Beklagten, ob sie abgesehen davon noch Erörterungsbedarf zur Klage haben. Den hat keiner, doch Rechtsanwalt Winfried Porsch, der die Stadt Stuttgart vertritt, "würde noch gerne etwas zur Haushaltslage der Stadt sagen", denn die stelle die Bahn zu positiv dar. Er nutzt die Chance, um eine Art kleines Plädoyer gegen die Bahn-Forderungen zu halten. Seine Ausführungen und die Gegenrede Quacks sind denn auch die medial meistzitierten des Sitzungstags.

Heiterkeit im Gerichtssaal

Porsch weist darauf hin, dass Stuttgart "trotz guter Einnahmesituation" voraussichtlich schon im Jahr 2025 rund 770 Millionen Euro Kredit aufnehmen müsse, um Ausgaben für "gewaltige Aufgaben" zu bestreiten – für Schulen, Digitalisierung, Sanierung von Gebäuden und Brücken, Unterbringung von Geflüchteten. Der Haushalt sei daher schon 2025 "deutlich unterfinanziert". Und wenn nun die Bahn mit ihrer Klage Erfolg habe und die Kosten nach dem gleichen Schlüssel wie im Finanzierungsvertrag von 2009 verteilt würden, kämen 1,3 Milliarden Euro zusätzlicher Kosten für Stuttgart 21 auf sie zu. Und das hieße, dass die Stadt "die Investitionstätigkeit im Grunde weitgehend einstellen müsste".

Für den Flughafen Stuttgart geht Anwalt Christian Bosse noch weiter: Den Verteilungsschlüssel des Vertrags zugrunde gelegt, müsste der Flughafen rund 600 Millionen Euro zahlen – das wäre angesichts eines Umsatzes im Jahr 2022 von rund 200 Millionen Euro "existenzbedrohend".

Quack kontert unbeeindruckt von den Ausführungen mit dem Hinweis, dass "auch die Bahn finanziell nicht auf Rosen gebettet" sei, was einiges Gelächter im Gerichtssaal zur Folge hat. Wobei er natürlich nicht Unrecht hat, wie die Bilanzpressekonferenz der DB kürzlich enthüllte.

Fragen zur finanziellen Leistungsfähigkeit sieht Quack nicht als Teil der Erörterung, und auch Kern geht nicht weiter darauf ein. Er leitet zügig über zur Verjährungsfrage, zu der das Land einige Beweisanträge gestellt hat. Das Thema wurde schon in der zweiten Sitzung vergangenen Juli erörtert, und die Positionen der jeweiligen Parteien sind im Prinzip unverändert.

Das Land und die anderen Beklagten (Stadt, Region Stuttgart, Flughafen) setzen den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist an dem Zeitpunkt an, an dem der Bahn bekannt wurde, dass die im Finanzierungsvertrag geregelten Kosten von 4,526 Milliarden Euro überschritten würden. Das sei spätestens 2011 der Fall gewesen, eigentlich aber – und hier geht das Land noch weiter als in der zweiten Sitzung – schon 2009. Die Bahn und ihr Anwalt Quack dagegen sind "dezidiert anderer Meinung" und setzen wiederum den Fristbeginn erst nach dem Scheitern der Sprechklauselgespräche 2015 an, in denen die Übernahme der ersten Kostensteigerung auf 6,5 Milliarden Euro geklärt werden sollte. Vom 31. Dezember 2015 an gerechnet, wäre ihr Anspruch also erst am 31. Dezember 2018 verjährt – und im Dezember 2016 hatte die Bahn die Klage eingereicht.

Es geht in der Beurteilung dieser Frage erneut ausgiebig hin und her in der Verhandlung. Und es geht dabei auch um juristische Feinheiten – so etwa, dass das Land gesonderte Beweisanträge stellt, um entweder nachzuweisen, dass die Bahn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine "positive Kenntnis" der Kostensteigerungen hatte, oder, ob eine "grob fahrlässige Unkenntnis" vorgelegen habe.

Für Quack sind all diese Kenntnisfragen irrelevant. Er sagt irgendwann, selbst wenn man das Scheitern der Sprechklauselgespräche nicht als Bezugspunkt für die Verjährung nehme, käme es beim Ansetzen der Frist darauf an, wann die Bahn die "Kostenfortschreibung" über den ursprünglich geregelten Betrag hinaus beschlossen habe – und dies war im März 2013. Auch dann läge also noch keine Verjährung vor. Flughafen-Anwalt Bosse sieht damit "das Verjährungsrecht auf den Kopf gestellt", Quack gebraucht die gleiche Formulierung etwas später gegenüber den Beklagten.

Protokolle des Bahn-Aufsichtsrats bleiben geheim

Am hitzigsten wird es, als irgendwann Rechtsanwalt Henning Berger, der das Land vertritt, anführt, dass man zur Klärung der Frage, ab wann die Bahn was genau wusste, auch die Protokolle des Bahn-Aufsichtsrats anfordern könne. Quack kontert auf aparte Weise: "Wir haben nichts zu verbergen", sagt er, "allerdings sind diese Protokolle höchst sensibel". Deswegen würden sie auch in Gerichtsverfahren nicht herausgegeben werden, denn "es würde ohne Zweifel die Beratungen in diesen Gremien nicht vereinfachen, wenn die Mitglieder damit rechnen müssten, dass das, was sie dort sagen, in die Öffentlichkeit gelangt." Worauf Berger lapidar erwidert, es gebe "keine Sonderrechte für die DB AG".

"Diese Diskussionen haben wir alle schon einmal geführt", sagt Richter Kern irgendwann, er will die einzelnen Positionen nicht mehr kommentieren. Ob die Beweisanträge überhaupt relevant werden, hängt davon ab, welcher Auffassung das Gericht folgt. Nach vier mündlichen Verhandlungen gebe es nun genügend Beratungsbedarf, sagt Kern. Folge das Gericht in der Verjährungsfrage der Meinung der DB, "wird eine Beweisaufnahme wahrscheinlich entbehrlich sein". Schließe es sich der Meinung der Beklagten an, würde den Beweisanträgen zur Aufklärung gefolgt werden, "das ist eine Selbstverständlichkeit".

Einen kleinen Einblick in die Sicht des Gerichts gibt Kern: "Wir haben schon einmal gesagt, dass wir eine gewisse Tendenz haben." Kern sagte am zweiten Verhandlungstag, die Argumentation der Bahn zur Verjährung "erscheint uns nicht ganz schwach". Doch das muss nichts heißen, es sei noch keine endgültige Rechtsansicht, betont Kern nun in der vierten Sitzung, "wir denken natürlich jetzt noch über alles nach".

Was lenkt der Lenkungskreis?

Dass nicht nur die Sprechklausel im S-21-Finanzierungsvertrag sehr kontrovers gedeutet werden kann, zeigt sich, als es kurz vor Ende der vierten Sitzung um von der Bahn verschuldete und unverschuldete Kosten geht. Weil der das Land vertretende Anwalt Henning Berger anführt, der S-21-Lenkungskreis (in dem sich die Vertreter der Projektpartner mehrmals jährlich treffen) gebe zwar Kosten frei, prüfe aber nicht, ob sie zurecht entstanden oder verschuldet seien, will Richter Kern wissen: "Was prüft eigentlich dieser Lenkungskreis?" Während DB-Anwalt Ulrich Quack "schon eine objektive Kontrollfunktion" sieht und auf den betreffenden Paragraf im Vertrag verweist, sieht Berger nur eine Regelung, dass tatsächlich entstandene Kosten zu erstatten seien, aber "dem Lenkungskreis werden keine Unterlagen vorgelegt, die eine Verschuldensprüfung zulassen." Die Anwälte werden sich auch hier nicht einig, und irgendwann bricht Kern die Diskussion ab, weil ja unklar sei, ob diese Frage im Verfahren überhaupt eine Rolle spiele. "Sie haben zur Rolle des Lenkungskreises zwar Regelungen getroffen, aber Sie sind sich nicht einig, was Sie da genau geregelt haben", sagt der Richter. Er habe "nur nochmal interessehalber gefragt. Weil, wenn man in den Vertrag ganz unvoreingenommen reinschaut, dann denkt man schon, dass ein Gremium wie der Lenkungskreis, der etwas freigibt, dann auch prüft, ob das in Ordnung geht. Aber das ist vielleicht eine sehr naive Vorstellung."  (os)

Zwei Hürden zu überspringen

Dass man nun die mündliche Verhandlung schließen und sich zur Beratung zurückziehen wolle, gibt Kern nach einer vergleichsweise kurzen Sitzung – nicht einmal drei Stunden inklusive Pause – bekannt. Zwei Hürden gebe es zu überspringen, fasst er noch einmal zusammen. Zum einen müsse die Klage dem Grunde nach zulässig sein, zum anderen dürften die Kostenansprüche nicht verjährt sein.

Wie das Gericht dies beurteilt, wird sich am 7. Mai zeigen, dem "Termin zur Verkündung einer Entscheidung". Und eine Entscheidung könne entweder ein Urteil sein, sagt Kern, "wenn wir der Meinung sind, dass wir das aufgrund des bisherigen Sachstandes machen können". Das Gericht kann aber auch den Beschluss verkünden, dass die Verhandlung wieder eröffnet wird, "wenn wir der Meinung sind, dass da noch eine weitere Sachaufklärung nötig ist, Stichwort Beweisaufnahme Verjährungsfragen".

Selbst wenn es ein Urteil gibt, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitergehen. Der jeweils Unterlegene wird in Berufung in die nächsthöhere Instanz gehen – das ist in diesem Fall der Verwaltungsgerichtshof Mannheim. Es ist von mehreren Jahren auszugehen, Kern schätzte in einer früheren Sitzung: "Eine rechtskräftige Entscheidung haben Sie vielleicht in fünf Jahren. Oder in drei."

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