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Zwangsfreizeit abgewendet

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Die Deutsche Bahn macht vor, wie man Sorgen Sorgen sein lässt und einfach mal macht: Dass sie Projekte auch dann weiterbaut, wenn sie noch gar nicht weiß, ob sie Geld dafür bekommt, geschweige denn von wem, kennen nicht nur Kontext-Leser:innen von Stuttgart 21. Dort hat dieses Vorgehen zu einer sich schon ziemlich lange hinziehenden Klage der Bahn gegen ihre Projektpartner geführt, von denen sie finanziell größere Zuwendungen erhofft. Eingereicht wurde die Klage 2016, der Prozess läuft noch mit unklarem Ausgang. Mitte April sieht man sich wieder vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht.

Diese Vorgehensweise verfolgt der Staatskonzern inzwischen wohl auch generell. Für die sogenannte Generalsanierung des Schienennetzes hat die Bahn einen Bedarf von 45 Milliarden angemeldet, vom Bund zugesagt sind bislang nur 27 Milliarden – und die restlichen 18 werden sich über die Jahre schon irgendwie materialisieren, hofft die Bahn. Nicht einmal die zugesagten Milliarden hat sie bislang erhalten, aber mit der Generalsanierung schon mal angefangen im vergangenen Jahr. Sie ging also in Vorleistung. Womit die DB bei ihrer Bilanzpressekonferenz am vergangenen Donnerstag auch einen Teil ihres unerwartet hohen Defizits von 2,4 Milliarden im Jahr 2023 erklärte.

Das sei aber im Prinzip gar nicht sooo hoch, meinte Bahn-Finanzvorstand Levin Holle sinngemäß, denn wenn die zugesagten 27 Milliarden aus dem vom Bundestag schon beschlossenen – Achtung – Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG) dann da seien, wären zumindest die Kosten der Vorleistung wieder ausgeglichen. Holle rechnete allerdings auch damit, dass der Bundesrat dem BSWAG schon zustimmen würde. Dann aber machte die Länderkammer den Weselsky und blockierte, und nun darf man gespannt sein, ob die Bahn auch hier irgendwann vor den Kadi zieht. Auf Basis von Erfahrungswerten wäre dann mit einer Klärung irgendwann ab 2031 zu rechnen.

Finster entschlossen sagte Holle noch einen Satz, der für manche wie eine Verheißung und für manche wie eine Drohung klingt: "Wir bauen alles weiter, was in Bau ist, und wir planen alles weiter, was in Planung ist."

Ach ja, die Bahn hat es nicht leicht. Nun muss sie auch noch in die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter:innen einsteigen. Die GDL mit ihrem Chef Claus Weselsky hat das in zähen Verhandlungen mit mehreren Streiks durchgesetzt. Musste sie auch, schließlich standen fast 30 Tarifverträge mit privaten Bahnbetreibern auf dem Spiel. Dort waren die 35 Stunden bereits vereinbart – aber nur unter der Bedingung, dass die Bahn auch mitmacht. Der Abschluss sieht außerdem mehr Geld vor und dass die wöchentliche Arbeitszeit schrittweise abgesenkt wird, bis ab 1. Januar 2029 die 35 Stunden gelten. Chapeau!

Wer will, darf übrigens weiterhin bis zu 40 Stunden arbeiten. Dafür gibt's Lob vom arbeitgebernahen Ifo-Instituts-Chef Clemens Fuest. Flexibilisierung sei besser "als eine zwangsweise Senkung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden für alle". Ja, man stelle sich bloß mal vor, dass Menschen mehr Zeit mit ihrer Familie, mit Freund:innen, Fahrradfahren, Essen Kochen, Bücher Lesen, Schlafen, Tanzen, Spaziergehen, Politik verbringen MÜSSEN. Schlimm wäre das, eine ganz üble Bevormundung.

Für mehr selbstbestimmte Zeit haben Unterdrückte schon in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gekämpft. Stichworte Bauernkriege, französische Revolution, Pariser Commune und so weiter. Um diese Geschichte von unten geht es in der "Proletenpassion", der Geschichtsrevue der Schmetterlinge aus den 1970er-Jahren, die nun in Esslingen an der WLB Premiere hatte. Das Publikum feierte die Inszenierung, unsere Kritikerin ist skeptisch. Dass die Landesbühne das Thema Klassenkampf überhaupt auf die Bühne bringt, könnte zumindest darauf hindeuten, dass es so langsam immer mehr Menschen gehörig auf die Nerven geht, stetig von mehr arbeiten und mehr sparen zu hören – Letzteres natürlich auf Kosten der Daseinsvorsorge, also auf Kosten der Masse. Die paar Reichen merken davon nix.

Nichts gemerkt hat auch Leni Riefenstahl. Für die Jüngeren: Das war eine angeblich geniale Filmemacherin, die unglaublich gerne für Adolf Hitler und Konsorten gearbeitet hat. Dafür rekrutierte sie zwangsweise Sinti aus einem Lager. Herausgefunden hat das die Filmemacherin Nina Gladitz, die darüber 1982 einen Dokumentarfilm für den WDR drehte. Riefenstahl klagte, bekam in nur einem strittigen Punkt recht, der WDR sperrte dennoch den ganzen Film in den Giftschrank. Gezeigt werden darf er mittlerweile wieder, aber nur mit pädagogischer Begleitung. Das wirft eine Menge Fragen auf, meint unser Autor Thomas Schuler.

Die alten Nazis sind mittlerweile nahezu ausgestorben, neue gibt es zuhauf. Das hat unsere Volontärin Franziska Mayr erlebt, als sie vergangenen Samstag nach Heilbronn fuhr, um den bundesweiten AfD-Europawahlkampf-Auftakt zu beobachten. Sie erlebte Sexismus, plumpen Populismus und Lügen ohne Ende. Durchgehalten hat sie mit Hilfe der 4-7-8-Methode und der Musik auf der Gegendemo, auf der Danger Dan zu hören war: "Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein."

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