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S-Bahn in Stuttgart

Suche nach "sekundären Netzen"

S-Bahn in Stuttgart: Suche nach "sekundären Netzen"
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Das aktuelle S-Bahn-Chaos in Stuttgart solle nicht davon ablenken, dass in einigen Jahren im Netz die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Sagen die Grünen im Regionalparlament, die eine Studie in Auftrag gegeben haben, um zu erkunden, was möglich wäre.

Der Ist-Zustand: Drei der sechs Stuttgarter S-Bahn-Linien fahren ganztägig im Halb- statt im Viertelstundentakt. Auf den Linien S 2 und S 3 verkehren zwischen Bad Cannstatt und Waiblingen nur Busse. Fahrtzeit: 25 statt zehn Minuten, Umsteigezeiten und Stau nicht mitgerechnet. Wenn in Esslingen der Regionalzug nicht ausfällt, hat er oft 25 Minuten Verspätung. Und am Hauptbahnhof wartet der Fernwanderweg: ein Kilometer durch unwirtliches Terrain bis zum Bahnhofsvorplatz.

Der Soll-Zustand, Version Verkehrsministerium Baden-Württemberg: In und zwischen allen großen und mittleren Städten gibt es ganztägig einen garantierten 15-Minuten Takt. Der öffentliche Verkehr muss doppelt so viele Fahrgäste aufnehmen wie zurzeit, um in Kombination mit anderen Maßnahmen wie einem großzügigen Ausbau der Radinfrastruktur die Verkehrswende zu bewältigen, ohne die sich wiederum keine Klimaziele erreichen lassen.

"Wir werden alles tun, um das Chaos zu mindern", verspricht Philipp Buchholz auf der Website der Grünen-Fraktion in der Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart. Aber wie der Fraktionsvorsitzende André Reichel sagt: "Die aktuellen Probleme der S-Bahn dürfen den Blick auf die Zukunft des Schienennahverkehrs in der Region nicht verstellen: Im Jahr 2032 endet der jetzige S-Bahn-Vertrag mit der Deutsche-Bahn-Tochter DB Regio, spätestens 2028 muss die Vergabe des Nachfolgevertrags in einem EU-weiten Verfahren erfolgen." Um zu klären, was dann in der Ausschreibung stehen soll, die ab 2026 ausgearbeitet werden muss, haben die Grünen beim Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart (VWI) eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse nun vorliegen (hier zum Download).

ETCS wird's nicht richten, sagt die Studie

Wichtigste Erkenntnis: Es braucht ein "sekundäres Netz". Damit ist gemeint: S-Bahnen, die nicht – wie bisher alle Linien – über die Stammstrecke zwischen Hauptbahnhof und Bahnhof Stuttgart-Vaihingen verkehren. Denn die Stammstrecke fährt am Anschlag. Wer sich durch das digitale Zugleitsystem ETCS (European Train Control System), dessen Einbau im Streckennetz für die derzeitigen Probleme verantwortlich ist, einen dichteren Takt erhofft haben sollte, dem erteilt die Studie eine klare Absage: Je mehr Fahrgäste, desto mehr Zeit brauchen diese zum Ein- und Aussteigen. Daran kann keine Elektronik etwas ändern. Einen Zehnminutentakt hält Reichel für illusorisch.

Eine Steigerung des Fahrgastaufkommens lässt sich also nur über zusätzliche, tangentiale Außenlinien erreichen. Freilich sind mit dem sekundären Netz keineswegs komplett neu zu bauende Linien gemeint. Seit Jahrzehnten wird etwa ein Ringschluss von der Filderebene ins Neckartal im Landkreis Esslingen diskutiert, wo es bisher nur langsame Buslinien gibt, die zudem nicht selten die Anschlüsse verpassen. Bislang empfiehlt es sich dann doch eher, mit der S-Bahn den Umweg über Stuttgart zu fahren.

Eine schnelle, zuverlässige Direktverbindung wäre hier ein Quantensprung, der auch die Stammstrecke deutlich entlasten könne. Allerdings hat dasselbe VWI, das nun die Studie ausgearbeitet hat, dem Projekt Ringschluss vor zwei Jahren bescheinigt, es sei unwirtschaftlich. Und einem neuen Vorstoß vor Kurzem, der eine Magnetschwebebahn ins Spiel brachte, attestierte es, diese sei zwar weniger problematisch als eine Verbindung per S-Bahn. Weil aber die Fahrgäste einmal mehr umsteigen müssten, stellte es die Wirtschaftlichkeit ebenfalls in Frage.

Helfen sollen Schusterbahn und Panoramabahn

Von einer Verbindung vom Neckartal auf die Filderebene steht daher nichts in der Studie. Mit dem sekundären Netz sind lediglich zwei bereits bestehende Bahnlinien gemeint: die Schusterbahn von Untertürkheim nach Kornwestheim, so genannt, weil auf dieser Linie früher die Arbeiter zur Salamander-Schuhfabrik fuhren. Sie wird auch derzeit schon relativ oft als Ausweichstrecke genutzt, wenn es am Stuttgarter Hauptbahnhof wieder einmal zu Problemen kommt.

Die zweite Linie ist die Gäubahn, deren Abschnitt von Stuttgart-Vaihingen in den Talkessel auch Panoramabahn genannt wird. Reichel stellt klar, dass der Erhalt dieser Linie bis zu einem noch zu bauenden Nordhalt, nahe des jetzigen Nordbahnhofs, beschlossene Sache sei. Allerdings ist eine Endstation an diesem Nordhalt idiotisch: Erstens müssten nahezu alle Fahrgäste, die von hier aus in Richtung Vaihingen wollen, mit einer anderen Linie anreisen, zweitens lässt sich die Panoramabahn so nicht mehr wie bisher als Ausweichstrecke benützen, wenn die Stammstrecke gesperrt ist. Was ziemlich häufig vorkommt – laut einer Erhebung des Verkehrsministeriums von 2019 rund 100-mal im Jahr.

Das Einfachste wäre nun, die bestehenden Panoramabahn-Gleise, die durch das Projekt Stuttgart 21 wegfallen sollen, bis zum Hauptbahnhof weiter zu betreiben. Was nicht zwangsläufig verhindern würde, das Gleisvorfeld zu bebauen – nur eben über den Schienen. Dagegen sträubt sich jedoch die Stadt Stuttgart, die der Bahn 2001 die Flächen des Gleisvorfelds für 459 Millionen Euro abgekauft hat. Reichel geht deshalb von einer anderen Lösung aus: dass die Panoramabahn nicht dauerhaft am Nordhalt enden wird, sondern nach Nordwesten und Osten in Richtung Feuerbach und Bad Cannstatt verlängert wird (siehe Grafik). "Der Abschnitt Nordhalt – Feuerbach könnte schon bis 2032 befahrbar sein", meint Reichel auf Nachfrage von Kontext. "Das Nordkreuz nach Bad Cannstatt sehe ich dann zwischen 2035 und 2040 als realistisch."

Der Filder-Ringschluss: ein "totes Pferd"

Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Auch wenn grundsätzlich mehr möglich wäre: Die Genehmigungszeiträume für neue Strecken sind lang, die Kosten hoch, und die Beschlusslage steht im Fall des Filder-Ringschlusses dagegen. Wie Reichel sich ausdrückt: "Sich jetzt auf das tote Pferd zu setzen, macht keinen Sinn." Die Studie setzt da an, wo Netzerweiterungen politisch durchsetzbar erscheinen. Was nicht heißt, dass sie schon beschlossen wären. Hier vorzuarbeiten, Überzeugungsarbeit zu leisten, ist das große Verdienst der Grünen-Initiative.

Was die Studie klarstellt: An der Schusterbahn und der Panoramabahn könnten neue Haltestellen eingerichtet werden, die zum Teil schon vorhanden, aber zu kurz sind. Beide Strecken tragen auch jetzt schon zunehmend dazu bei, das System resilienter zu machen. Weniger vornehm ausgedrückt: dass es überhaupt noch funktioniert. Im Fall der Panoramabahn ist im Moment allerdings auch diese Option verbaut: Der schlechte Zustand der Gleise verhindert den S-Bahn-Betrieb und damit die Nutzung als Ausweichstrecke.

Alles hängt mit allem zusammen

Die Tangentiallinien sind aber nicht alles, was die Studie zu bieten hat. Der Verkehrsvertrag mit dem nächsten Betreiber, wenn der aktuelle mit der DB Regio 2032 nach mehr als zwanzig Jahren ausläuft, muss alles enthalten, was notwendig erscheint, damit das Land sein Ziel erreichen kann, bis 2040 klimaneutral zu sein. Alles steht auf dem Prüfstand: die Fahrzeuge, die Wartung, die Barrierefreiheit, Linienverlängerungen und neue Haltestellen, die Art der Vergabe, die Ausstattung der Züge und vieles mehr.

Da dies hier nicht in aller Breite ausgeführt werden kann: ein paar Beispiele, die zeigen, wie eines mit dem anderen zusammenhängt. Derzeit verkehren auf allen S-Bahn-Linien zumeist Langzüge aus drei vierteiligen 70-Meter-Einheiten. Jede Einheit hat zwei Triebköpfe, das bedeutet, ein Langzug hat sechs Triebköpfe, von denen vier in dieser Kombination nicht gebraucht werden. Triebköpfe sind teuer und nehmen Platz weg, der auch den Fahrgästen zur Verfügung stehen könnte. Andere Konstellationen sind denkbar: zwei 100-Meter-Züge etwa, eine Kombination von 140 und 70 Meter oder auch ein einteiliger, knapp 210 Meter langer Zug, der zehn Prozent mehr Platz böte.

Das hat Auswirkungen. Nicht nur auf die Erste-Klasse-Abteile – die München neuerdings durch Sitzecken ersetzt hat –, sondern vor allem auch auf die Wartung. Die derzeitige Werkstatt der DB Regio in Plochingen ist nur für 70-Meter-Züge ausgelegt. "Diesem Thema ist eine hohe Priorität zuzuordnen", heißt es in der Studie. Die Werkstatt muss erweitert werden oder an anderem Ort muss eine größere gebaut werden – nur wo? Und was passiert, wenn ein anderer Bewerber die Ausschreibung gewinnt?

Wem sollen die ab 2032 angeschafften Züge gehören?

Was so nicht in der Studie festgehalten ist, führt VWI-Direktor Ullrich Martin bei der Vorstellung aus: Wenn derzeit eine S-Bahn wegen defekter Bremsen in die Werkstatt kommt, sich dann aber herausstellt, dass auch eine Tür klemmt, bleibt es bei der Reparatur der Bremsen. Ein System, das sich noch optimieren ließe.

Die Fahrzeuge haben eine Lebensdauer von 32 Jahren, sagt Patrick Wernhardt vom VWI. 1978 ist die S-Bahn mit 48 Zügen gestartet. Heute sind es 215, und es sollen mehr werden, sonst ist eine Kapazitätserweiterung nicht möglich. Dafür fehlt es aber nicht nur an Platz in der Werkstatt, sondern auch an Abstellflächen. Der großzügige Verkauf von Schienengrundstücken in den letzten 30 Jahren hat die Sache nicht einfacher gemacht. Es werden wieder Grundstücke erworben werden müssen.

Die Züge, die ab 2032 angeschafft werden, werden noch fahren, wenn diejenigen, die sie bestellt haben, längst in Rente sind. Wem sollen sie gehören: dem Betreiber, der die Ausschreibung gewinnt? Dem Verband Region Stuttgart als Auftraggeber? Oder sollten sie vom Hersteller geleast werden, der dann für die Wartung verantwortlich wäre? Es gibt viele Fragen, die reiflich überlegt sein wollen, bevor ein Ausschreibungstext formuliert wird. Falls nicht – auch das wäre möglich – der Verband Region Stuttgart ein Verkehrsunternehmen erwirbt oder aufbaut und die S-Bahn dann per Inhouse-Vergabe selbst betreibt.

Das letzte Wort hat der im Verband Region Stuttgart zuständige Jürgen Wurmthaler, Direktor der Bereiche Wirtschaft und Infrastruktur. Er zeigt sich hoch erfreut, dass die Grünen so frühzeitig ihre Vorstellungen geäußert haben. Die Regel sei eher, dass in letzter Minute jeder seine Änderungswünsche anbringen wolle, was dann deutlich schwieriger zu berücksichtigen sei.

Beim Betrieb der S-Bahn, so Wurmthaler, und der Frage, wer die Fahrzeuge besitzt, sei immer auch zu bedenken: Wer kann was am besten? Größere Veränderungen könnten Verbesserungen, aber auch Probleme mit sich bringen. Jedenfalls dankte Wurmthaler den Grünen, dass sie mit der Studie viele wichtige Anregungen gegeben hätten, die, wie Reichel betonte, für die Fraktion auch eine außergewöhnliche Ausgabe bedeutet habe. Wie viel letztendlich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.


Die Studie des VWI zum Download.


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2 Kommentare verfügbar

  • Martin Höhnke
    am 20.07.2023
    Antworten
    Oh. Da ist mal jemand aufgewacht und hat erkannt das ETCS hier nix bringt und dass auch die Panoramabahn erhalten bleiben muss. Jedoch haben sie noch nicht verstanden was es braucht um einen durchgehenden Viertelstundentakt einzuführen. Fahrzeuge und Personal.
    Und um das vorhandene Personal zu…
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