KONTEXT:Wochenzeitung
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Die grantelnde Primzahl

Die grantelnde Primzahl

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Der Mensch im Allgemeinen und als solcher, also wir alle, "wir müssen noch lernen – lernen, lernen, lernen – popernen!" So formulierte es der große Helge Schneider schon vor über 30 Jahren im Kapitel "Philosophie" seines Frühwerks "Guten Tach". Und nur nebenbei sei bemerkt, dass der oft als bloßer Dada-Blödler missverstandene Schneider seinen Philosophenstatus noch nicht durch einen Podcast mit Markus Lanz pulverisiert hat. Aber das ist ein anderes Thema.

Mit dem Lernen ist das so eine Sache. Einerseits merkte der Soziologe Jens Kastner schon 2010 an, dass das "lebenslange Lernen" längst auch ein "neoliberaler Imperativ" sei. Auch wenn wir bei Kontext einer marktgerechten Zurichtung widerstehen, müssen wir konstatieren: lernfähig und neugierig zu bleiben, kann hilfreich sein.

Eine Menge gelernt haben zum Beispiel nicht nur die Schüler:innen der Klasse 8b der Bismarckschule in Stuttgart-Feuerbach, die in einem Projekt mit Kontext eigene Artikel und eine ganze Schulausgabe erstellten. Sondern auch wir, wie Kontext-Chefredakteurin Anna Hunger beschreibt. Dass das Gegenteil des Lernens, das aktive Vergess... – pardon, das völlig aufrechte Sich-nicht-erinnern-können gerade in der Politik und ganz besonders in Untersuchungsausschüssen häufig vorkommt, beleuchtet Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer. Die Bereitschaft, etwas über die Situation der jeweils anderen Seite zu lernen und Empathie auch für sie zuzulassen, scheint zwischen den Pro-Israel- und Pro-Palästina-Lagern momentan ziemlich zu verkümmern, wie die Texte von Kolumnistin Elena Wolf und Gastautor Gerd Rathgeb nahelegen. Es ist zum Heulen.

Im Gegensatz zu Politikern ein "Elefantengedächtnis" hat Kontext-Kolumnist Joe Bauer, bescheinigt ihm zumindest der Kabarettist Jess Jochimsen. Er meint: "Glücklich die Stadt, die einen Chronisten beheimatet wie diesen zärtlich grantelnden, geschichts- und geschichtenversessenen Flaneur." Ein begierig über seine Stadt Lernender, und zwar beim Durchqueren derselben zu Fuß, ist Bauer auf jeden Fall, und zwar schon seit Jahrzehnten. Was er dabei gelernt hat, trägt er regelmäßig in seinem Flaneursalon vor, begleitet von jeder Menge Klein-, Mittel- und Großkünstler:innen aus Stuttgart und der etwas größeren Region. Jetzt feiert der Flaneursalon Geburtstag, 25 wird er und ist damit ziemlich genau doppelt so alt wie Kontext. Am 21. November ist die Geburtstagshow im Stuttgarter Theaterhaus, und wir gratulieren aufs Herzlichste!

Unter den vielen Dutzend Gästen, die über die Jahre live zu Gast waren, sind Musiker wie Michael Gaedt und Stefan Hiss, die schon bei ihren ersten Flaneursalon-Auftritten alte lokale Haudegen waren, und solche, die anfangs noch kaum jemand kannte, wie die Musikerinnen Ella Estrella Tischa und Marie Louise oder der Rapper Toba Borke. Manche, die dabei waren, sind inzwischen verstorben. Etwa der grandios-böse Satiriker Wiglaf Droste, der den schönen Satz schrieb: "In einer durch jeden Müll teilbaren Welt zählt Joe Bauer zu den raren Primzahlen." Schon früh dabei und sehr fidel ist der Koch und "Wielandshöhe"-Küchenchef Vincent Klink, der uns als Glückwunsch zum Flaneursalon-Geburtstag folgende Zeilen schickte: "Die eindrucksvollsten Spaziergänge fanden nirgends anderswo statt als in Stuttgart, auf der Fährte von Joe Bauer. Oft hat es mich peinlich berührt, wie blind ich durchs Innenstadt-Biotop gewankt bin. Stöberte ich danach bei meinem Lieblingsindianer Joe in seinen Texten, rieb ich mir die Augen. Sieht doch dieser Geronimo und Spurensucher Situationen, Geschehnisse und immobile Besonderheiten, die mir schon immer entgangen waren. Fast möchte ich sagen, ohne Joe bin ich mit Blindheit geschlagen."

Auf noch viele weitere Jahre Flaneursalon, lieber Joe!


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